Standort Erfurt / Station Thuringia-Versicherungsgebäude
Geldgeschäfte am Kaffeetrichter
Nahezu jeder Erfurter kennt den Verkehrsknotenpunkt namens Kaffeetrichter. Hier kreuzen sich seit uralten Zeiten die Fernstraßen 4 und 7. Doch was steckt hinter diesem kuriosen Namen?
Er geht zurück auf ein ehemaliges Café, das einem gewissen Herrn Trichter gehört hatte. Es stand direkt an der Kreuzung. Das historische Caféhaus wurde im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört. Zwar erfolgte ein Wiederaufbau. Doch der zunehmende verkehrstechnische Ausbau der Kreuzung raubte dem Kaffee seine Gemütlichkeit. Nach mehrmaligem Besitzerwechsel während der DDR-Zeit wurde es nach lange Leerstand 1993 abgerissen und durch ein Bürogebäude ersetzt. Dessen ungeachtet: Der Name Kaffeetrichter hat sich für die Kreuzung durchgesetzt. Wer heute einen Spaziergang rund um den Kaffeetrichter wagt, der entdeckt einige architektonische Höhepunkte der Thüringer Industriekultur. Dazu gehört vor allem das gründerzeitliche Verwaltungsgebäude direkt gegenüber dem einstigen Cafés. Hier wurde Banken- und Versicherungsgeschichte geschrieben. Um den „Capitalisten“ die Möglichkeit zu geben, zinsgünstige Leihkapitalien in größerem Umfang zu erhalten, wurde in Erfurt bereits 1756 eine Kreditanstalt gegründet. Doch noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde von der örtlichen Wirtschaft kritisiert, dass es in Erfurt keine großen Leih- und Wechselbanken gab. Wollten die Erfurter bedeutsame Geldgeschäfte abwickeln, mussten sie nach Frankfurt am Main oder Leipzig ausweichen. Erfurt hinkte hinterher, Anleihen konnten oft nur bei privaten Geldgebern und Wucherern getätigt werden. Ersuchen nach zinslosen Krediten für die Erweiterung ihrer Produktionsanlagen stellten Unternehmer deshalb oft direkt an die preußische Regierung, allerdings meist erfolglos. Wo das Risiko wächst, entwickelt sich das Bedürfnis nach mehr Sicherheit. Damit entstanden zeitgleich mit den Banken auch die ersten Versicherungen. 1853 wurde die Eisenbahn- und Allgemeine Rück-Versicherungs-Gesellschaft Thuringia in Erfurt gegründet. Dies erfolgte per Erlass vom 19. Juni 1853 durch die preußische Regierung. Diese Versicherung kam auf Betreiben des Erfurters Karl Friedrich Wehle, Bürovorsteher der Thüringischen Eisenbahn-Gesellschaft, zustande. Diese Gründung war eine besondere. Die Thuringia gilt als erster Unfallversicherer in Deutschland und als das erste deutsche Versicherungsunternehmen, welches mehrere Sparten anbot. Die Versicherung kaufte 1879 ein Grundstück von 9000 Quadratmetern, um dort ein würdiges Geschäftsgebäude zu errichten. Die Baukosten einschließlich des Grunderwerbs beliefen sich auf 675 263 Mark.
Im Jahr 1883 folgte der Einzug in das neue Geschäftshaus. Ab 1924 gehörte die Thuringia zur Aachener und Münchener Feuerversicherungsgesellschaft. 1942 zählte man 16 Banken in Erfurt. Außerdem war das Versicherungsgewerbe ausgeprägt. Es beschäftigte um die 2000 Personen, davon allein 300 in der Thuringia. Nach dem Einmarsch der Roten Armee im Jahre 1945 erfolgten die Schließung und die Enteignung der Versicherung. Die Thuringia verlegte ihren Sitz in die englische Besatzungszone nach Hannover, und schließlich nach München. Heute besteht die Thuringia in der Generali Deutschland AG weiter.
Doch zurück zum Gebäude der Thuringia, das als Denkmal gilt. Es wurde zu DDR-Zeiten als Bezirksdirektion der Volkspolizei und nach der Wende als Sitz des Thüringer Innenministeriums genutzt. In den 90er Jahren war vieles im Umbruch, die neuen Behörden des Landes und der Stadt suchten immer wieder geeignete Räumlichkeiten, bauten neu und zogen dann wieder um. Schließlich stand der große Thuringia-Bau lange leer. Das Ensemble wurde in den letzten Jahren umfassend saniert und neuen Nutzungen zugeführt. Straßenseitig entstanden Gewerbeeinheiten und im Innenhof hochwertige Eigentumswohnungen. Der zu DDR-Zeiten angefügte Plattenbau wurde teilweise zurückgebaut. Damit konnte die denkmalgeschützte Fassade am Altbau wieder freigelegt und zu ihrer ursprünglichen Erscheinung zurückgeführt werden. Inzwischen präsentiert sich der Bau als kleines Palais.
Wer Zeit hat, sollte sich die versteckten baulichen Raffinessen einmal genauer ansehen. Denn zwischen den roten Klinkersteinen gibt es allerhand zu entdecken: die filigrane Wandgliederung aus Sandstein, ein laufender Hund (ein wellenförmiger Fries) und ein antikisierendes Relief. Zu sehen sind Greife, Palmetten und Vasen. Man entdeckt korinthische Säulen ebenso wie allegorische Figuren in flachen Muschelnischen. Von der originalen Innenausstattung ist vor allem der aufwendige Haupteingangsbereich mit seinem steilen Treppenaufgang erhalten geblieben wie die Treppenhäuser mit geschmiedeten Geländern.
Das Thuringia-Gebäude steht am Erfurter Kaffeetrichter (Schillerstraße 27). Es kann von innen im Rahmen von Kundenkontakten mit den neuen Nutzern besichtigt werden. Dazu gehören die Geschäftsstelle der Johanniter, eine Tanzschule, eine Musikschule und eine Kanzlei.