Standort Erfurt / Station Etikettenfabrik
Deutschlands größte Fabrik für Etiketten
Nennen sie drei Dinge, die in der DDR-Gesundheitsversorgung als vorbildlich galten? Und was fällt einem sofort ein? Neben dem SVK-Ausweis und der Impfpflicht folgt in den meisten Fällen die Poliklinik. In der DDR waren dies staatliche, ambulante Kliniken mit mindestens vier verschiedenen medizinischen Fachbereichen. Nach der Wiedervereinigung ordnete man die Schließung dieser Häuser zugunsten der niedergelassenen Ärzte sozusagen von Amts wegen an. Inzwischen ist mehr als ein Vierteiljahrhundert vergangen und die politisch ungeliebten Polikliniken feiern ein leises Comeback. Denn viele Vorteile liegen auf der Hand: Teure Apparate, Operationssäle und teilweise auch Personal werden von mehreren Ärzten gemeinsam genutzt, auch die Verwaltung ist zentral. Dadurch fallen meist geringere Kosten für die Krankenkassen an. Und es gibt natürlich Vorteile für die Patienten. Sie haben bei Weiterbehandlungen und Überweisungen innerhalb der Poliklinik kurze Wege.
In Erfurt gibt es eine solche Klinik in der Melchendorfer Straße. Diese unterscheidet sich in gleich zwei Dingen von anderen Polikliniken. Erstens: In den Namen wurde ein Y eingebaut, wohl um Kritik am DDR-Begriff verstummen zu lassen. Zweitens: Ärzte und Physiotherapeuten arbeiten in einem technischen Denkmal. Gemeint ist die Etikettenfabrik, die man zu DDR-Zeiten unter dem Kürzel Etama kannte. Die Ursprünge des Unternehmens gehen ins Jahr 1899 und ins sächsische Chemnitz zurück. Dort erfand Wilhelm Siegfried ein Verfahren für Etiketten, die preiswert herzustellen und praktisch überall einsetzbar waren. Die sogenannten Andrück-Etiketten sollten bald ihren Siegeszug antreten und ihren Platz auf Dosen, Flaschen oder Papp-Verpackungen finden. Da Wilhelm Siegfried bei seiner Erfindung noch in leitender Stellung in der Textilbranche angestellt war, musste sein Vetter Louis Zander seinen Namen bei der Firmengründung beisteuern. Nachdem der Betrieb 1904 nach Erfurt verlagert wurde, übernahm Siegfried die Oberhoheit. Der Name Zander aber blieb.
Mit den Jahren mauserte sich die Firma zu einem international renommierten Spezialbetrieb. Dabei ging es um weit mehr als nur Etiketten. Schließlich stellte das Unternehmen viele Spezialmaschinen für die eigene Produktion selbst her und hatte auch eine Sonderabteilung für die künstlerische Gestaltung der Etiketten. Gefertigt wurden darüber hinaus auch viele kleine Metallwaren: Briefklammern, Reißbrettstifte, Spiegel-Ösen, Plomben oder Heftklammern. Dazu war der Fabrik eine eigene Galvanik angeschlossen, wo die blanken Teile mit Messing, Nickel oder Silber überzogen werden konnten. In diesen Zeiten waren in der Fabrik rund 400 Automaten im Einsatz, die täglich jeweils bis zu 60 000 Etiketten produzierten. Bereits 1922 verließen die Erzeugnisse wie beispielsweise Original-Andrück- und Nadel-Etiketten, Orna-Stechetiketten und Klebe-Etiketten millionenweise die Erfurter Fabrik. Es war das bedeutendste Unternehmen seiner Art in ganz Deutschland. Um das Jahr 1928 waren unter dem Firmennamen Zander 1200 Beschäftigte, darunter viele Heimarbeiter, und rund 900 Maschinen registriert. Zehn Jahre später betrug der Exportanteil 40 Prozent, wobei die meisten Etiketten nach England, Frankreich und Holland gingen. Zwar raffte sich die Etikettenfabrik nach dem Zusammenbruch 1945 wirtschaftlich schnell wieder auf. Sie begann kurz vor der Gründung der DDR mit 90 Mitarbeitern und stellte bald wieder ein umfangreiches Repertoire an Etiketten und Siegelmarken her. Als VEB Etama und mit 250 Mitarbeitern entstanden zu DDR-Zeiten vor allem Haft-Etiketten. Sie klebten auf fast jeder DDR-Verpackung. Dann kam 1989 die nächste Zäsur. Nach anfänglichen Hoffnungen auf einen neuen Investor schlug bald die letzte Stunde und das Gebäude begann zu zerfallen. Die einstige Etama war einer der Schandflecke Erfurts, Dachziegel fielen herunter, Türen wurden vernagelt.
Interessant ist die architektonische Geschichte des großen Komplexes. Die Fabrik war in drei Bauabschnitten errichtet worden. Entlang der Melchendorfer Straße entstanden 1906/07 der südliche Teil und 1910 ein nördlich anschließender Abschnitt. Beide Baukörper waren zweigeschossige Gebäude unter Terrassendächern. 1919 erfolgte ein umfassender Umbau und damit die Vergrößerung zur heutigen Form durch Wilhelm Holzinger. Das Hauptgebäude steht heute noch als ein kompakter, streng gegliederter Baukörper mit abgerundeter Ecke an einer Straßeneinmündung. In den letzten Jahren steckten Investoren mehrere Millionen Euro in die Ruine, möbelten die alte Fabrik baulich wieder auf und eröffneten im Jahre 2009 die neue Polyklinik. Seitdem ist wieder Hochbetrieb in der einstigen Etama.
Das Fabrikgebäude steht an der Einmündung der Melchendorfer Straße in die Häßlerstraße in Erfurts Süden, unweit des Steigerwald-Stadions. Es ist während der Sprechstunden der Klinik auch von innen erlebbar.